Andermatt: Gemsstock, Glanz und Gloria

Hier werden Freeride- und Skitouren-Träume wahr.

von Steffen Müller, Bilder: Ben Wiesenfarth

Romantische Winter-Destination? Verschlafenes Bergdorf? Party-Hochburg? Geheimtipp? Nein, keines dieser Attribute trifft auf Andermatt zu. Andermatt ist anders, passt nicht so recht in eine Schublade, und ist trotzdem – oder gerade deshalb - so faszinierend. Hier prallen Welten aufeinander und hier werden Welten verbunden, unter anderem durch den Bahnhof der Matterhorn-Gotthard-Bahn. Welten liegen auch zwischen dem alten und dem neuen Andermatt.
Letzteres ist ein ganz besonderes Immobilienprojekt. Nirgendwo sonst in der Schweiz können sich Ausländer so einfach den Traum vom Feriendomizil in den Bergen verwirklichen wie in dem von Großinvestor Samih Sawiris entwickelten Ortsteil Reuss – das nötige Kleingeld vorausgesetzt.
Bei Freeridern und auch bei Skitourengehern ist der Ort, der lange Zeit von und mit seinem Militärstützpunkt lebte, schon lange ein Begriff. Mit der Verbindung nach Sedrun und Disentis finden inzwischen auch Pistenskifahrer dies- und jenseits des Oberalppasses an der Grenze der Kantone Uri und Graubünden eine riesige Spielwiese.  Zudem steht hier im Skigebiet, direkt am Ausgangspunkt zahlreicher lohnender Skitouren, der wohl einzige Leuchtturm oberhalb 2000 Meter. Der ungewöhnliche Standort hat durchaus seine Berechtigung. Schließlich entspringt hier der Rhein, der in die Nordsee mündet.

Jede Menge Möglichkeiten

So viel zur Liste der Besonderheiten, die hier fast bis ins Unendliche fortgeführt werden könnte. Jetzt geht es auf die Bretter, die die Welt bedeuten – direkt auf den legendären Gemsstock, dessen Name allein begeisterten Skifahrern erwartungsvolles Lächeln ins Gesicht zaubert. Das geht auch Bergführer Osi Tschümperlin nach wie vor so. Kein Wunder an solch einem Tag im März. Die Sonne strahlt vom blauen Himmel, es gibt nur ein paar harmlose Wölkchen. Der Schnee glitzert im grellen Licht und obwohl der letzte Schneefall in diesem unterdurchschnittlichen Winter schon ein paar Tage her ist, gibt es noch jede Menge unberührte Abfahrtmöglichkeiten. Andermatt ist schlicht ein Traum für alle, die am liebsten abseits der Pisten unterwegs sind.

Perfekte Nordhänge

Auf 2962 Meter Höhe bringt einen die Seilbahn. Wir gehen aber noch ein paar Meter höher. Osi Tschümperlin führt uns durch ein schmuckloses Treppenhaus aufs Dach des Seilbahngebäudes. Was uns hier oben erwartet ist schlicht überwältigend. Wir sind vom Rundum-Blick förmlich erschlagen. Am Horizont die verschneiten Massive in Graubünden, im Tessin, im Berner Oberland und im Wallis - vor uns die Hänge der Gotthard-Gruppe im Kanton Uri, die heute direkt für uns erreichbar sind.
Hier erstreckt sich ein Freeride-Paradies vom Feinsten. Weite Hänge für Genießer, steile Flanken und anspruchsvolle Rinnen. Legendäre Abfahrten wie die Giraffe, die schier endlos und anspruchsvoll durch traumhafte Rinnen führt, oder jene durch das Guspis, eine traumhafte Reise durch überwiegend moderates Gelände über 1500 Höhenmeter hinunter bis nach Hospental.
Wir nehmen uns zum Auftakt die direktere Variante ins Hospental vor. Südseitig geht es gut 200 Höhenmeter über abwechslungsreiches Gelände abwärts zum oberen Bereich des Schwarzwasserfirns. Hier heißt es auffellen und rauf zur Gafallenlücke, dann weiter bis zur Sankt Annalücke, dem Einstieg ins Felsental. Wir halten uns bei der Abfahrt links des Firnstocks und des Gotthard-Bahntunnels, der direkt unter uns verläuft. Die nordostexponierten Hänge bieten auch in durchwachsenen Wintern wie dem vergangenen guten Schnee. Die Abfahrt ist schlicht ein Traum. Freies Gelände wechselt mit kupierten, felsigen Abschnitten, kleine Rinnen und überwechtete Kanten. Zum Schluss gönnen wir den Oberschenkeln bei der Querung auf dem Forstweg nach Hospental eine verdiente Erholungspause. Auf der Terrasse des urigen Hotels St. Gotthard besprechen wir bei einer Stärkung den nächsten Run.

Gemsstock gegen Carbon-Stock: 1:0

Nicht mehr erholen wird sich mein Stock. Das federleichte Carbon-Wunderwerk hat den Sturz zu Beginn der Tour nicht überlebt. Die Kritik geht hier nicht an den Hersteller, sondern an den Fahrer. Windausgesetzte Grate sind einfach mit Vorsicht zu genießen. Hier war es ein Shark, ein unter der dünnen Schneedecke nicht sichtbarer Fels, der zum Glück nur für ein paar Blutergüsse und einen – bei der Landung auf selbigem - defekten Teleskopstock sorgte. Ein guter Hinweis darauf, wie schnell es manchmal gehen kann und eine Warnung davor, im absturzgefährdeten Gelände Experimente einzugehen.
Wir fahren mit dem Bus zurück zum Gemsstock. Mit dem legendären Berg sind wir noch nicht fertig. Diesmal geht es in Abfahrtsrichtung rechts der Seilbahn zur Giraffe. Das Gelände hier ist technischer und enger als bei der ersten Variante.  Der Charakter ein völlig anderer. Die Schwünge müssen exakt sitzen. Im unteren Bereich queren wir auf die Piste und ziehen noch ein paar schnelle Schwünge auf der wunderbar sulzigen Piste – fast so schön wie Powder, finde ich. Aber da gehen die Meinungen auseinander.

Hochgenuss im „The Chedi“

Unstrittig ist, dass nach einem anstrengenden Freeride-Tag die Energiereserven wieder aufgefüllt werden müssen. Das geht in Andermatt bodenständig, zünftig oder auf allerhöchstem Niveau – zum Beispiel im „The Chedi“.  Das „The Restaurant“ im Fünf-Sterne-Hotel ist mit 15 Gault-Millau-Punkten geadelt und bietet ganz besondere Menüs, die von asiatischen und europäischen Einflüssen geprägt sind. Dazu empfiehlt sich unbedingt die exzellente Weinbegleitung, die uns mehr als überzeugt hat. Wer sich also neben der grandiosen Bergwelt etwas Besonderes gönnen möchte, ist hier genau richtig.
Nach dem Ausflug in die Welt der Gourmetküche und der edlen Weine geht es zurück ins Hotel, das Radisson Blue in Reussen, um den nächsten Tag zu planen. Wir entscheiden uns für eine Skitour, die alles bietet – inklusive eines Hauchs Küstenflair. Das versprüht der knallrote Leuchtturm am Oberalppass, unserem Ausgangspunkt für die Tour auf den Pazolastock (2739 Meter).
Ein Erlebnis ist bereits die Fahrt mit der Matterhorn-Gotthard-Bahn vom Bahnhof in Andermatt zum Oberalppass. Am besten reist man direkt mit dem Zug in Andermatt an. Das Auto benötigt man hier definitiv nicht. Zurück zur Tour. Mit jedem Meter, den wir uns vom Oberalppass entfernen, wird es einsamer, auch wenn die Tour sicher nicht zu den einsamsten der Schweizer Alpen gehört. Der Anstieg ist angenehm, nicht zu steil, nicht zu flach, Spitzkehren sollte man aber sicher beherrschen. Die Aussicht vom Pazolastock, dessen Gipfel exakt auf der Grenze der Kantone Uri und Graubünden liegt, ist atemberaubend.
Fast noch schöner sind die Nordost-Hänge, die direkt vor uns liegen. Wir haben uns für die Abfahrt über Nurschalas Grondas nach Tschamut entschieden. Für die Variante weiter südlich über den Tomasee, knapp unter der offiziellen Rheinquelle, sind die Verhältnisse nicht gut genug. Die Rinne braucht mehr Schnee, um sicher befahren werden zu können.  So sparen wir uns auch die luftige Gratquerung und können uns direkt ins Abfahrtvergnügen stürzen. Satte 1100 Höhenmeter Abfahrtsvergnügen erwarten uns – und praktisch alle Schneeverhältnisse, die man so kennt: wunderbarer Pulverschnee an den schattigen Hängen, der berühmt berüchtigte Plattenpowder, der mal hält und mal nicht, wunderbarer Firn, Sulz, der die breiten Ski förmlich ansaugt und ein paar richtig schön vereiste Passagen im Bachbett zum Finale. Alles was das Herz begehrt also und alles, was die Oberschenkel so richtig schön brennen lässt. 

Diese Bahn kommt

Die haben es allerdings am Ende der epischen Abfahrt noch nicht ganz überstanden. 80 Höhenmeter gilt es noch zu Fuß zu bewältigen. Schließlich müssen wir zur Bahnlinie an die Bedarfshaltestelle der Matterhorn-Gotthard-Bahn. Hier haben wir noch eine halbe Stunde Zeit unsere Abfahrtsroute zu analysieren und die nächsten Touren in der Region zu planen. Der Zug zurück nach Andermatt hält auf Knopfdruck anstandslos. Ein Schweizer Schneeschuhwanderer, der mit uns am Bahnsteig steht, ist trotzdem nicht begeistert: „Zwei Minuten zu spät“, sagt er und schüttelt den Kopf. Solche Probleme mit der Bahn hätten wir auch gerne – überhaupt so eine Bahnstrecke am Ende so einer grandiosen Skitour.

Diese Reportage stammt aus unserem Magazin "Abenteuer Ski - Piste. Freeride. Tour.". Hier gibt es auch Tipps zu Skitouren und Freeride-Abfahrten in der Region.

Infos

Das Skigebiet

Mit 180 Pistenkilometern und 33 Liftanlagen auf bis zu 3000 Meter Höhe ist Andermatt, Sedrun, Disentis das größte Skigebiet der Zentralschweiz.
www.andermatt-sedrun-disentis.ch/

Übernachtungstipp

Radisson Blu Hotel Reussen Andermatt
Perfekt gelegen auf 1444 Meter, fußläufig zum Bahnhof und den Seilbahnen.
www.radissonhotels.com

Mehr zu Andermatt Swiss Alps

www.andermatt-swiss-alps.ch